Taktik aus dem wahren Leben

„Schach ist zu 99% Taktik“ soll Richard Teichmann einmal gesagt haben. Über die genaue Prozentzahl kann man streiten, aber ohne ein solides taktisches Gespür geht es einfach nicht.

Glücklicherweise gibt es viele Möglichkeiten, unser taktisches Auge zu schärfen: Von Lehrbüchern, die die einzelnen Motive in „Reinform“ vermitteln, bis hin zu automatisierten Online-Taktiktrainern mit einem quasi unendlichen Aufgabenpool dürfte fast die komplette Bandbreite abgedeckt sein.

Trotzdem sind die taktischen Probleme, mit denen sich Vereinsspieler in ihren Partien konfrontiert sehen, manchmal etwas „anders“: Die glasklaren Lehrbuchstellungen tauchen seltener auf als einem lieb ist und irgendein Stein stört den schematischen Ablauf (vielleicht hilft dann die Kombination verschiedener Motive?!). Andererseits sind Partiestellungen oft „nebenlösig“ und es gibt viele Möglichkeiten, eine Gewinnstellung zu verwerten. In den meisten Fällen gibt es auch gar keine glanzvollen Opferangriffe, sondern wir müssen kleinere Brötchen backen und halt den schnöden zwei- bis dreizügigen Bauerngewinn mitnehmen (auch wenn uns das der Computer nur mit einem Bewertungssprung von +0,3 auf +0,8 „dankt“). Schließlich spielt unser*e Gegner*in auch noch mit: Entweder sie oder er hat das taktische Motiv ebenfalls gesehen und sich eine Verteidigung zurechtgelegt – dann liegt es an uns, zu entscheiden, ob die verlockende Kombination auch wirklich wasserdicht ist. Oder wir haben es mit einer besonders bösen Sorte zu tun, die sogar selbst gewinnen will (unerhört!), sodass wir gegenüber gegnerischer Drohungen immer wachsam sein müssen.

Daher möchte ich regelmäßig einige solcher taktischen Situationen aus dem „wahren Leben“, also aus eigenen bzw. Heilbronner Partien zeigen. Dabei reicht die Spanne vom simplen Bauerngewinn (bleibt uns in der Praxis ja auch nicht erspart) bis zu der ein oder anderen „Perle“, die zeigt, dass auch auf Kreis- bis Verbandsebene schöne und gehaltvolle Partien entstehen können!

Los geht es mit einer eher unübersichtlichen Stellung – Schwarz ist am Zug:

Lösung

Hier spielen gleich mehrere Motive eine Rolle:

  • Der schwarze Läufer ist an die Dame gefesselt und droht verloren zu gehen: Dagegen hilft …bxc5 oder …Txc5, woraufhin Weiß eventuell auf der d-Linie verdoppeln könnte…
  • Der weiße Springer hängt, allerdings würde …exf3 der Dame-Läufer-Batterie den Weg nach h7 öffnen und das sieht gar nicht so harmlos aus (2. Dh7+ Kf8 3. Dh8+ Ke7 4. exd6+)
  • Schließlich gibt es noch das lehrbuchmäßige Abzugsmotiv …Lxh2+ „mit Qualitätsgewinn“; blöderweise steht hier aber ein ungedeckter Springer auf g4, sodass Weiß nach 2. Sxh2 Dxd5 3. Sxg4 zwei Figuren für den Turm bekommt

Hier hilft also nur Rechnen; in der Partie fand ich heraus, dass der Läuferabzug funktioniert und musste mich daher nicht mehr intensiv mit den anderen Möglichkeiten befassen. Wie mir der Computer hinterher verriet, gibt es tatsächlich mehrere Züge, die zu einer schwarzen Gewinnstellung führen – welche dieser Gewinnstellungen man gerne auf dem Brett hat, ist eine andere Frage:


Kommentare

Taktik aus dem wahren Leben — 4 Kommentare

  1. Die direkten Ansätze funktionieren nicht, also empfehle ich mal das primitive Txc5 2.Txc5 bxc5. Wenn er den Springer wegzieht, pflück ich h2 ab, also 3.h3 exf3 4.Dh7+ Kf8 5.hxg4 Dh4 und gefühlt hat Schwarz starken Angriff. Falls Weiß auf das Zwischenschach auf h7 verzichtet, kann er zwar über die zweite Reihe verteidigen, hat aber weniger Gegenangriff.

    • Hi Robin, danke für den Kommentar!

      Du denkst definitiv pragmatischer als ich 🙂 Ich habe in der Partie so lange (und quasi ausschließlich) an …Lxh2 herumgerechnet, bis ich den Gewinnweg gefunden hatte. Die Folgen von …Txc5 (wäre dann wohl der Plan B geworden, wenn ich nach …Lxh2 nichts gefunden hätte) und …exf3 (hätte ich nie gespielt) habe ich mir später vom Computer ausspucken lassen.

      Diesem gefällt nach 1… Txc5 2. Txc5 Lxc5 deutlich besser (Schwarz bekommt das Motiv …Sxe3), deshalb habe ich 2… bxc5 nicht analysiert (bzw. analysieren lassen). Dein „gefühlt […] starke[r] Angriff“ nach 2… Lxc5 3. h3 exf3 4. Dh7+? Kf8 5. hxg4 Dh4 schlägt auf jeden Fall durch, aber scheinbar hat Weiß nach 4. hxg4 noch genug Verteidigungspotential. Der Computer meint dann 0.00, aber ich würde kein Geld darauf setzen, dass eine Turnierpartie ausgehend von dieser Stellung remis ausgeht.

      • Die Partievariante hab ich bis Dd1 berechnet und abgebrochen, weil ich Td8 nicht gesehen habe. Die krasse Variante hab ich bis cxd6+ berechnet und Kf6 nicht gesehen. Anscheinend ist mein Rechenhorizont am Bildschirm entscheidende Halbzüge zu seicht. Nach Txc5 Txc5 war Lxc5 mit Motiven gegen e3 meine erste Idee, doch war mir Td1 zu unklar, also hab ich mich für das scheinbar klarere bxc5 entschieden.

        • Meinst du 20… Txc5 21. Txc5 Lxc5 22. Td1? Darauf finde ich, dass 22… Db8 vielversprechend aussieht: Der weiße Dameneinfall sieht jetzt ungefährlich aus, also hängt der Sf3. Nach 23. Se1 Dxh2+ 24. Kf1 muss Weiß schlecht stehen – der Springer hat kein Feld und Schwarz kann vielleicht sogar einfach …Te6-f6 ziehen, dann werden f2 und e3 weich. Kritisch dürfte 23. h3 sein, aber da sieht 23… Sxe3 24. fxe3 exf3 stark aus; die Idee ist 25. Dh7+ Kf8 26. Dh8+ Ke7 27. Dxg7 Tg8. Weiß hat kein Schach und Schwarz droht …Txg2 und …Lxe3. Das ist allerdings nicht computergeprüft, kann also falsch sein.

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