Das Thema dieser Serie ist die „Taktik des Alltags“, also taktische Situationen, mit denen wir Normalsterbliche in unseren Partien konfrontiert sind. Wer genügend Partien gespielt hat, weiß, dass brillante Opferangriffe leider die Ausnahme bilden; entscheidend ist viel häufiger, die kleinen Chancen, die sich links und rechts am Wegesrand auftun, zu erkennen und zu nutzen.
Alle Beispiele kommen aus dem „wahren Leben“, entstammen also meinen eigenen oder Heilbronner Partien. Manchmal kam die Kombination oder taktische Möglichkeit aufs Brett, manchmal wurde sie jedoch auch übersehen. Die Spanne reicht vom simplen kurzzügigen Bauerngewinn bis zu komplexeren Kombinationen, bei denen klassische Motive eventuell in versteckter oder „verfälschter“ Form auftreten können. Hin und wieder ist auch mal eine „Perle“ dabei, entweder in Form einer Kombination „für die Galerie“ oder als gehaltvolle Stellung mit vielen interessanten Motiven und Möglichkeiten, die naturgemäß zum großen Teil unter der Oberfläche bleiben und erst in der Analyse auftauchen.
„Durch Aufgeben wurde noch nie eine Partie gewonnen“
Das Sprichwort ist natürlich überspitzt, hat aber einen wahren Kern. Darüber, wann man eine Verluststellung aufgeben sollte, lässt sich lange philosophieren (streiten?). Der eine lässt sich aus Prinzip mattsetzen (oder gibt einen Zug vorher auf), die andere handhabt es eher flexibler („Wann würde ich selbst die [gegnerische] Gewinnstellung locker heimschieben?“). Zu früh sollte man das Handtuch jedoch keinesfalls werfen und solange man den Gegner noch vor Probleme bei der Verwertung stellen kann, sollte man jede Gelegenheit dazu nutzen.
Eine vorzeitige Kapitulation muss sich der Schwarze in der heutigen Stellung nicht vorwerfen lassen: Mit drei Minusbauern stand er die meiste Zeit auf Verlust, trug die Stellung jedoch noch bis zur Zeitkontrolle. Womöglich war auch weiße Zeitnot im Spiel; jedenfalls dachte Schwarz in der Diagrammstellung nicht daran, aufzugeben, sondern zog stattdessen was?
Am Sonntag werde ich diesen Beitrag mit der Lösung aktualisieren. Lösungsvorschläge als Kommentare sind erlaubt – wer sich also zunächst selbst an der Aufgabe probieren möchte, sollte die Kommentare erst mal ignorieren.
Lösung
Die weiße Stellung mag vorher gewonnen gewesen sein; in der Diagrammstellung ist das aber nicht mehr der Fall:
1. – Lxb4!
Weiß verliert direkt nach 2. cxb4?? Txb4+, weil 3. Ka1 Tc1+ matt wird. Auch 3. Tb3 Txb3+ rettet nicht mehr: 4. Ka1 Tc1+ sollte sogar matt werden, nach 5. Ka2 oder direkt 4. Ka2 reicht zur Not ja auch Tb5+.
Auch 2. Txd5? Lxa3+ 3. Kxa3 Txc3+ nebst 4. – exd5 scheint materiell betrachtet recht hoffnungslos zu sein.
Oder 2. c4? Lxa5+ und der Se1 wird auch noch fallen.
Halbwegs spielbar scheint noch 2. Tb5 zu sein, aber nach 2. – Lxa3+ 3. Kxa3 Txb5 3. Lxb5 Txc3+ spielt Schwarz mit Qualität gegen Bauer. Ob das gewonnen ist, weiß ich nicht – das würde ich dann versuchen, wenn es so weit kommt – wegen des aktiven Turms würde ich das aber durchaus gerne mit Schwarz spielen.
Am besten kommt Weiß vielleicht noch mit 2. Kc2 weg. Gerade sehe ich nicht, ob Schwarz da mehr als Qualität gegen zwei Bauern rausschlagen kann, was hier vermutlich relativ ausgeglichen ist. Im Vergleich zu der Startstellung wäre ich hier mit Schwarz auf jeden Fall zufrieden.
Von dem her: 1. – Lxb4 und dann erst einmal abwarten, was Weiß spielt. 😉
Wenn’s denn stimmt: hübscher Überfall. 🙂
Herzliche Grüße
Jochen
Genau, mit 1… Lxb4+! kommt Schwarz richtig gut ins Spiel zurück. Wie du richtig erkannt hast, ist die stärkste weiße Antwort 2. Kc2 Lxa5 3. Txa5 und mit zwei Bauern für die Qualität ist die Sache noch nicht klar.
Einen Einwand habe ich nur bei deiner Variante 2. Txd5? Lxa3+ 3. Kxa3: Hier würde ich mit Schwarz nicht auf c3 und d5 schlagen, sondern mit 3… Ta7+ mattsetzen 😉
Mattsetzen? Kann man machen. 🙂
Ich erinnere mich an eine sehr lustige Diskussion mit Robin, der lieber die Dame gewinnen wollte als mattzusetzen. Oh Mann, das ist Jahre her.
Grüße an den ganzen Verein – bleibt alle gesund!
Jochen