Die Katala(u)nischen Felder

Vor fast 1572 Jahren stand der römische General Aëtius dem Hunnenkönig Attila gegenüber. Es ging um die Schlacht auf den „Katalaunischen Feldern“ – heute liegt dort die französische Stadt Châlons-en-Champagne. Aëtius stammte aus einem Gebiet, welches heute „Bulgarien“ heißt. Und das Schicksal des römischen Reiches lag schon lange nicht mehr in den Händen von „echten Römern“. Spätestens als die Reichskrise des 3. Jahrhunderts vom illyrischen General Diokletian und seinen Kollegen beendet wurde, lag das faktische Zentrum der größten Macht des Mittelmeers außerhalb von Italien.

Und was liegt heutzutage auf dem Gebiet der damaligen illyrischen Provinzen? Richtig, (auch) Albanien. Was habe ich als Albaner mit den großen Heerführern wie Diokletian und Aëtius gemeinsam? Wahrscheinlich nichts. Ich bin nur fasziniert von der Antike. Und ich führe keine echten Soldaten in die Schlacht, sondern Holzfiguren.
Aber vielleicht urteile ich hier vorschnell. Ich führte keine rein deutsche Mannschaft in den Kampf. Die Mannschaft entstand aus einem Bündnis von Heilbronnern und Helvetiern. Und wir kämpften in Mainz. Heute wahrscheinlich mehr für den Karneval und fürs Saufen bekannt, war Mainz (oder „Mogontiacum“) eine der wichtigsten Städte in den germanischen Provinzen des römischen Reiches. Mainz war damals einer der ersten Städte, welche von den Hunnen überrannt wurde.
Unsere Gegner? Naja, wäre zu schön gewesen, wenn es Chinesen gewesen wären. Manche Leute glauben, dass die Hunnen sich nach dem Zerfall des Xiongnu-Reiches auf dem Weg von China nach Westeuropa gemacht haben. So weit nach Osten muss man jedoch nicht gehen, um die Herkunft unserer Gegner vom 4. Februar 2023 zu finden.

Der SV 1920 Hofheim, seines Zeichens genauso sehr Abstiegskandidat wie wir, trat in der Spitze mit drei ukrainischen Großmeistern an. Insgesamt spielten sie mit fünf Großmeistern, einem internationalen Meister und einem FIDE-Meister. Wir hatten zwar auch sieben Titelträger an den Brettern, jedoch „nur“ sechs FMs und einen IM. Es schien klar zu sein, dass Hofheim gewinnen will.

Und so erblickte ich als General den ersten taktischen Schachzug unserer Gegenüber. Zwei frühe Remisgebote. Wirklich sehr früh. Nicht einmal eine Stunde gespielt und gleich so ein Frontalangriff? Auch noch dort, wo ich uns im Vorteil wähnte? Zumindest war Simon Degenhard an Brett 8 seinem Gegner Elo-mäßig überlegen. An Brett 4 hatte Noah Fecker Schwarz und sein Gegner war nicht von schlechten Eltern, jedoch hatte ich sehr viel Vertrauen in Noah gesetzt. Schließlich war er es, welcher uns mit einem überragenden Schwarzsieg das 4:4 gegen Eppingen sicherte. Und das gegen einen Großmeister mit über 2500 Elo. Jedoch blieb die Frage, was zu tun war. Nur an Brett 1 gab es eine leichte Tendenz in Richtung Hofheim, weil Philipp Wenninger in Geberlaune zu sein schien – er opferte einige Bauern. Also der schicksalhafte Satz: „Entscheidet selbst“.
Nun, bin ich das Orakel von Delphi? Man müsse sich nur vorstellen, der Kampf wäre 4:4 ausgegangen und Noah hätte verloren. Ja, wäre ich dann nicht der Depp gewesen? So kann ich wenigstens die Verantwortung auf andere Leute abschieben. Perfekt!

Jedenfalls stand es früh 1:1. Der Kampf an den anderen Brettern war zäh. Philipp rettete sich gegen GM Sumets in ein Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern. Diese können auch mit vielen Minusbauern noch Remis sein. „Ungleichfarbige Läufer“ war auch das Thema an den Brettern 2 und 3. Theo Stijve befand sich an 3 in derselben Situation wie Philipp (ein paar Bauern weniger), er litt zusätzlich an einer schwachen Königsstellung. Fabian Bänziger an Brett 2 stand aber solide. Da sollte nichts mehr anbrennen.
Okay, an 4 war schon Remis vereinbart. An 5 spielte ich gegen GM Womacka. Man sagt ja, dass man gegen die alternden Großmeister Chaos aufs Brett bringen soll. Die alten Leute können ja nicht mehr so gut rechnen. Also wählte ich die klassische Isolani-Stellung mit großem Fokus aufs Manövrieren. Gute Wahl, nicht?
Als mir langweilig war, schaute ich nach rechts und erschrak. Unsere rechte Flanke war völlig offen. Nikolas Pogan wurde völlig zerlegt. Gar nicht sein Tag. Damit stand es 1:2 aus unserer Sicht. Okay, passiert…immerhin standen wir an Brett 7 gut. Thilo hatte eine schöne Spanisch-Stellung mit typischen Vorteilen für Weiß. Mehr Platz, Initiative, Bauernschwächen beim Gegner. Me gusta.

Nach einigen Stunden kam Leutnant Fecker zu mir. „Es sieht nicht gut aus“. Das ist wahrscheinlich der Moment in einem Film, in welchem die Kamera auf das bedrückte Gesicht des Generals gehalten wird und langsam reinzoomt. Gaaanz langsam. Aber das Leben ist kein Film. Bitch, denkst du, ich bin blind?! Ich sah, dass der Kampf nicht gut läuft. An 1 und 3 war kaum Verbesserung in Sicht. Fabian machte dafür Remis. Damit setzte ich alles auf Kabisch, welcher die gegnerische Infanterie gewähren ließ (Schwarz bekam einen Freibauern auf der a-Linie), um dafür seine Kavallerie in die Nähe des schwarzen Königs zu bringen. Ein klassisches Opferspiel.
Neben Kabisch setzte ich auf mich selbst. Was auch sonst?


Na, wer findet in diesem Turmendspiel Fehler und kann sie verbessern? Übrigens habe ich die Partie auf YouTube in Grundzügen analysiert.
Nach meinem Sieg war es ein klassischer Fall von „die Hoffnung stirbt zuletzt“. Wobei sich die Hoffnung nicht wirklich viel Zeit ließ, zu sterben. Bei Thilo machte der einsame schwarze a-Bauer das Rennen. Wobei, so einsam war er nicht. Fast die ganze schwarze Armee half dem Bauern. Und der König überlebte irgendwie mit zwei Läufern und ein paar Bauern als Schutz. Da nutzte es nichts, dass Thilo wie zu seinen besten Zeiten wirbelte. Das sah eher wie „viel Wind um nichts“ aus. Nichts mit der guten spanischen Stellung. Thilo verlor. Ay Caramba!

Zwar zauberte Philipp noch ein Remis aufs Brett. Jedoch stand es 3:4. Theo hätte gewinnen müssen. Wie gesagt, das Leben ist kein Film. Auch wenn Theo ähnlich lange Haare wie Jon Schnee hat, war es nicht so wie bei Game of Thrones, als Jon Schnee von einer herannahenden verbündeten Armee gerettet wurde. Da kam niemand. Und wenn wir mal ehrlich sind, hätte Jon Schnee in der Szene sterben müssen. Dieser Bastard.
Theo verlor dann noch. Keiner kam, um ihm zu helfen. So wie keiner kam, um Rom zu retten. Wir verloren 3:5 gegen Hofheim.

Was haben die Römer schon für uns getan? Richtig, ein funktionierendes Staatswesen. Was noch? Ah, die Aquädukte. Und noch? Kultur und Wohlstand. Und noch etwas? Pizza.
Okay, das waren nicht unbedingt die Römer der Antike. Und schon gar nicht kamen diese auf die Idee, ihre Pizza mit Sucuk zu belegen. Aber Leute, das schmeckt einfach gut. Mit einer Pizza Sucuk im Magen konnte ich friedlich schlafen. Vielleicht war eine Schlacht verloren, jedoch war der Ausgang des Krieges noch offen. Außerdem hätte es keinen besseren Gegner als Heidesheim geben können.

Denn Heidesheim war quasi schon abgestiegen und wir waren nach Elo favorisiert. Im Schnitt mehr als 50 Elo pro Brett Unterschied. Sollte ich richtig gerechnet haben, wäre der Kampf nach Elo 4,56:3,44 für uns ausgegangen. Das Orakel von Delphi wäre jetzt neidisch.
Anfangs hatte ich ein Déjà-Vu. Zwei relativ schnelle Remisen. Fabians Spiel wurde von IM Johannes Carow neutralisiert. Fabian, willst du irgendwann auch mal eine Partie gewinnen? Also, es wäre cool. Aber mach dir keinen Stress. Das zweite Remis gab es von Noah. „Wie kann man den mit Weiß und 200 Elo mehr keinen Vorteil rausholen? Wie schlecht bin ich?“ – hat jemand eine Antwort auf Noahs Fragen?
Also wieder 1:1. Und wieder Unheil, welches am Himmel aufzog. Theo verrechnete sich, nachdem er nach der Eröffnung klar besser stand. Es war einfach nicht sein Wochenende. Passiert. Nächstes Mal klappt es sicher besser. Trotzdem: wir lagen hinten. Gegen Heidesheim. Uncool.

Den Ausgleich besorgte ich. Wer auch sonst? Ein wahrer Anführer versteckt sich nicht hinter den anderen.


Ich hatte mit Schwarz gerade …g6-g5 gespielt. Wie würdet ihr mit Weiß reagieren?

Kurz danach ein wichtiger Doppelschlag. Sowohl Thilo als auch Simon wandelten ihre gewonnenen Stellungen in ganze Punkte um. Und das war wichtig laut dem Orakel von Delphi. Denn an beiden Brettern war unser Team mit 84 respektive 141 Elo klar überlegen. Hätten wir diese Bretter nicht gewonnen, hätten wir niemals an einen Sieg denken können.
Damit hing es an Philipp und Niko. Beim Stand von 4:2 für uns brauchten wir nur irgendwo ein Remis. Das wird ja nicht so schwer sein?!

Nun, zuerst: es war schwieriger als gedacht. Außerdem weiß ich gar nicht, was schwieriger ist. Das Erzielen des Remis oder das Warten darauf, dass einer der beiden Spieler das Remis holen würde. Ehrlich gesagt ging mir der Arsch auf Grundeis. Würden wir gegen Heidesheim nicht gewinnen, hätten wir sicher keine Chance mehr, die Klasse zu halten. Wenn ich selbst gespielt hätte, dann hätte ich auf meine eigenen Fähigkeiten vertrauen können. Aber darauf zu hoffen, dass einer der beiden ihre schlechten Stellungen halten würden und dabei völlig machtlos zu sein, das gab mir kein gutes Gefühl.
Zuerst war Philipp dran. Er musste nach improvisierter Eröffnung einen Bauern aufgeben und bekam dafür aktives Figurenspiel. Sein Gegner IM Thore Perske verteidigte sich zäh, vor allem durch Gegendrohungen. Vereinzelt hätte Philipp wohl besser spielen können, sodass ein Remis lange im Bereich des Möglichen war. Aber ein zusätzlicher ungenauer Zug würde bedeuten, dass der Mehrbauer entscheiden würde. Und so kam es auch. Weiß bekam die Gelegenheit, ein Damenendspiel mit Mehrbauern zu erhalten, in welchem der Weg zum Remis (wenn er überhaupt existierte) überhaupt nicht offensichtlich war. So verloren wir Brett 1 und führten nur noch 4:3.

Das Problem bei Nikos Stellung war: sie sah sehr solide aus, aber mir war nicht klar, wie er ein Remis forcieren konnte. Der Gegner manövrierte hier, bewegte seine Dame über das halbe Brett, schwenkte einen Turm von links nach rechts…es schien kein Ende zu nehmen. Der Heidesheimer Mannschaftsführer Erik Förster meinte, dass Nikos Gegner Elmar Karst mal ACHTEINHALB STUNDEN am Stück gespielt hätte. Eine einzige Partie. Gebt euch das mal!
Ich schaute auf die Uhr. Beginn war um 10 Uhr. Achteinhalb Stunden…also 18:30 Uhr? Dann nach Heilbronn? Niko danach noch in die Schweiz? Am Tag darauf arbeiten? Halleluja.

Ich war mir nicht sicher, ob ich zuschauen sollte oder nicht. Dann sah ich, dass Niko mit zwei Minuten auf der Uhr seine Dame opferte. Er versuchte, ein schlechtes Endspiel Turm + Springer gegen Dame Remis zu halten. Für die Mannschaft. Der Geist war willig, das Fleisch war schwach. Oder so. Er kämpfte. Ich verließ den Spielsaal und blickte resigniert auf den Tisch mit Verpflegung. Keine Brötchen mehr. Keine Bananen mehr. Keine „Ferrero Rocher“ mehr. Nichts mit spätrömischer Dekadenz. DDR war angesagt. Ich ging nach oben zum Analyseraum. Dort wartete Simon mit seinem Schnauzbart auf mich. Wie der Vater, so der Sohn. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ach ja, Äpfel gab es noch beim Verpflegungs-Tisch. Aber ich bin mehr der Bananen-Typ. So wie Niko. Niko, an dem alles hing. Die Minuten vergingen einfach nicht. 15:30. 15:45. 16:00. 16:15.
Plötzlich Jubel. Gelächter im Stockwerk unter mir. Es schien vorbei zu sein. Attila Elmar hatte wohl gewonnen. Und ich musste allen Ernstes runter, um das Ergebnis mit meiner Unterschrift zu bestätigen. Welch Schmach für das einst mächtige Imperium.
Ich ging runter. Ich betrat den Spielsaal. Ich sah Niko und seinen Gegner analysieren. Ich nahm es gar nicht wahr. Ich ging mechanisch zum Schiedsrichtertisch. Ich wollte gerade wie ein Roboter unterschreiben. Ich sah das Endergebnis: 4,5:3,5. Ich sah Nikos Remis eingetragen. Ich lächelte.

Niko hatte es geschafft. Keiner wusste so wirklich, wie er es geschafft hatte. Es war auch nicht wichtig. Wir sind noch im Geschäft.

Aëtius gewann die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern trotz großer Verluste. Als das römische Reich kurz vor der endgültigen Vernichtung durch Attila stand, war Aëtius zur Stelle. Nach dem Jahr 452 n.Chr. spielten die Hunnen keine große Rolle mehr in der Weltgeschichte. Attila war für immer besiegt. Und das römische Reich im Westen? Nun, Kaiser Valentinian III. hatte es satt, eine Marionette seiner Mutter und seines wichtigsten Generals Aëtius zu sein. Im Jahr 455 n.Chr. ermorderte er Aëtius. Eigenhändig. Kurze Zeit später wurde er selbst ermordet. 21 Jahre später wurde der Kaiserhof im Westen abgeschafft. Der Rest ist wortwörtlich Geschichte.
Glücklicherweise bin ich nicht Flavius Aëtius. Am 25. und 26. Februar geht es weiter mit der 2. Bundesliga.


Schreibe einen Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Die Kommentare sind moderiert und werden in der Regel innerhalb eines Tages freigegeben. Sollte es länger dauern, haben wir den Kommentar entweder übersehen oder der Spamfilter hat zugeschlagen. In diesem Fall bitten wir um eine kurze E-Mail an webmaster@schachverein-heilbronn.de.