Taktik aus dem wahren Leben (9)

Das Thema dieser Serie ist die „Taktik des Alltags“, also taktische Situationen, mit denen wir Normalsterbliche in unseren Partien konfrontiert sind. Wer genügend Partien gespielt hat, weiß, dass brillante Opferangriffe leider die Ausnahme bilden; entscheidend ist viel häufiger, die kleinen Chancen, die sich links und rechts am Wegesrand auftun, zu erkennen und zu nutzen.

Alle Beispiele kommen aus dem „wahren Leben“, entstammen also meinen eigenen oder Heilbronner Partien. Manchmal kam die Kombination oder taktische Möglichkeit aufs Brett, manchmal wurde sie jedoch auch übersehen. Die Spanne reicht vom simplen kurzzügigen Bauerngewinn bis zu komplexeren Kombinationen, bei denen klassische Motive eventuell in versteckter oder „verfälschter“ Form auftreten können. Hin und wieder ist auch mal eine „Perle“ dabei, entweder in Form einer Kombination „für die Galerie“ oder als gehaltvolle Stellung mit vielen interessanten Motiven und Möglichkeiten, die naturgemäß zum großen Teil unter der Oberfläche bleiben und erst in der Analyse auftauchen.

Statik und Dynamik


Bei Ingenieuren werden bei dieser Überschrift sicher Erinnerungen an das Studium wach – ob positiv oder negativ, sei einmal dahingestellt. Ein in entsprechenden Vorlesungen gerne gezeigtes Fall- und Warnbeispiel ist der spektakuläre Einsturz der Tacoma-Narrows-Brücke im Jahre 1940 nur vier Monate nach deren Fertigstellung. Tatsächlich wurden bei der Auslegung der Brücke nur statische Belastungen berücksichtigt; eine durch Starkwind verursachte Schwingung schaukelte sich so lange auf, bis die Befestigungsseile rissen und die Brücke in den Fluss stürzte.

Auch im Schach führt die Missachtung von dynamischen Möglichkeiten oft zu Katastrophen (auch wenn die Konsequenzen glücklicherweise nicht so gravierend sind!). So könnte man nach einer rein statischen Betrachtung der Diagrammstellung dem Weißen fast schon die Aufgabe nahelegen: Zwei Türme plus Bauer sind stärker als die Dame und von den fünf verbliebenen weißen Bauern sind alle isoliert und vier verdoppelt! Also was tun?

Lösung


Kommentare

Taktik aus dem wahren Leben (9) — 5 Kommentare

  1. Mal ganz einfach gefragt…. auf die Gefahr hin, dass ich einen einfachen Konter übersehe (Grundreihe? alles gut!), aber was passiert nach dem einfachen 1. c6?
    Es droht sowohl Dxf8#, aber auch der Sf6 hängt, wonach die schwarzen Felder um den König auch recht schwach werden.

    Ich würde eine Fortsetzung der Art

    1. c6 Te8 (was sonst?) 2. Dxf6 Txc6 (alles andere wird nach 3. Lb2 nur noch ekliger)

    erwarten. 2. – Txc6 hält Schwarz durch den Tempogewinn (Df6 ist bedroht) noch im Spiel, weil ansonsten 3. Lb2 extrem unangenehm aussieht, wonach mindestens noch h7 fallen wird.

    Materiell sind wir jetzt bei DL gegen TTBB, was schon ausgeglichener aussieht. Allerdings könnte nun

    3. Ld6 (Te6 geht nicht wegen 4. Dd8+) nebst 4. c5 ganz hübsch werden. Der Ld3 greift a6 an und gewinnt Zeit für 5. Lc4, wonach f7 nicht mehr sinnvoll zu verteidigen ist: Tf8 läuft wieder in De7.

    Da ich keine Alternative zu c6 sehe und das Material zu gewinnen scheint, würde ich die zwei erzwungenen Züge spielen und dann wieder etwas länger an 3. Ld6 überlegen, wenn die Stellung auf dem Brett ist.

    Kann aber auch alles Quatsch sein. Danke übrigens für die schöne Reihe! 🙂

    Jochen

    • Hallo Jochen,

      du übersiehst nichts; 1. c6! gewinnt eine Figur und damit die Partie. Übrigens gleichzeitig ein Sperr- und ein Räumungszug 😉

  2. Hallo Ramin,

    die Fachtermini wollte ich euch ersparen. Der Problemschächer in mir hat die Linienöffnung und die gleichzeitige Verstellung natürlich als solche erkannt. Aber auch im Problemschach gibt es ja Verführungen, da war ich einfach doch ein wenig unsicher.

    Wie wäre die Materialverteilung TTL mit zwei Mehrbauern gegen DLL eigentlich in einer praktischen Partie einzuschätzen? Ist das _materiell gesehen_ wirklich so klar (wenn man Schach spielen kann)?

    Meine weiteren Varianten oben waren ja nicht ganz sauber, denn nach 2. – Txc6 ist die Aussage, dass nach 4. c5 der Ta6 angegriffen ist, natürlich Unsinn – der steht ja inzwischen auf c6. Klassisches Restbild…. 🙁 Hoffentlich ist Ld6, c5, Lc4 als Drohung trotzdem stark genug, auch wenn Schwarz ein Tempo mehr hat. Das könnte noch eine Qualität einbringen (ich denke, Txd6 ist bald erwungen?) und danach ist es dann Dame gegen Turm – das würde ich mir irgendwann zutrauen. Der Lc8 ist halt ziemlich traurig, das ist ja schlimmer als der französische Läufer. 😉

    Ich bin auf die ganze Partie gespannt.

    Herzliche Grüße
    Jochen

    • Du hast Recht; rein materiell halten sich TTLBB und DLL etwa die Waage. In der Partie ist das schwarze Problem, dass er nicht mit TTL spielt, sondern nur mit 1-2 Türmen und schwächlichen Bauern.

      Ich habe die Partie (war nicht meine eigene) nur mit Computerunterstützung überflogen, aber deine Einschätzung zu 3. Ld6 dürfte passen – jedenfalls bewertet Stockfish das ebenfalls anfangs mit +4 bis +5 und will mit Schwarz auch irgendwann die Qualität geben. Enis hat sich für eine andere Vorgehensweise entschieden.

    • Ganz grob verallgemeinert sind DLL meistens besser als TTLBB, denn Türme sind sehr schlecht darin gegen Diagonalenangriffe zu verteidigen, während Läufer Linien sperren können, indem sie sich mit einem Bauern gegenseitig decken oder auch nur das wichtigste potentielle Einbruchsfeld decken. Die Situation ist ein bißchen vergleichbar mit ungleichfarbigen Läufern aber als Einbahnstraße.
      Wie bei den meisten stark assymetrischen Materialverteilungen hängt viel von der konkreten Situation ab; folgende Leitfragen können dir helfen die Stellung zu bewerten und sinnvolle Plännne zu entwickeln:
      Hat der antagonistenlose Läufer starke Diagonalen?
      Haben die Türme mehrere offene Linien?
      Befindet sich das statische Material auf einem Flügel oder übers ganze Brett verteilt (ersteres begünstigt tendenziell die Türme.)?
      Gibt es außer den beiden Mehrbauern noch viele weitere Bauern? (Je mehr zusätliche Bauern, desto weniger sind die beiden wert, außerdem haben dann die Läufer mehr potentielle Anker um die Türme zu blockieren.)
      Was sind die beiden Bauern ? Im Weg / schwach / vorhanden / Raum kontrollierend / Sargnägel in der gegenerische Stellung / gefährliche Freibauern
      Gibt es konkrete taktische Motive?
      Neben diesen objektiven Kriterien gibt es noch ein wichtiges praktisches: Für Menschen ist es deutlich leichter DLL sinnvoll zu koordinieren als TTLBB.

      In der Beispielpartie steht Weiß so gut, dass die Selbstfesselung Ld6 zum Sieg ausreicht, doch Dd4 was Enis ja auch gespielt hat ist stärker: gegen den simplen Plan Ld3-e4-d5 nebst Lb2 gibt es keine Verteidigung.

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